Deutsche Philosophiegeschichte von 1785 bis 1920

Für den Unterricht in Medienethik und Mediengeschichte entstand dieses Skript. Ich möchte eine möglichst knappe Übersicht über deutsche Philosophie bzw. den philosophischen Diskurs von 1785 bis 1920 geben. Meine Studenten sollen damit das Denken in Diskursräumen lernen und somit die Basis für eine moderne und relevante Medientheorie erhalten.
—-
Möge es jedem Interessierten nutzen.
Für jegliche Fehler bin ich selbst verantwortlich, der Text hat eine CC-Lizenz (Verwendung mit Namensnennung) . Ich bin auch sehr daran interessiert, das Dokument zu verbessern.
Hinweise werden gerne entgegen genommen.
___

Deutsche philosophische Ideengeschichte von 1785 bis 1920

1785 Die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten  von Immanuel Kant,

=> konstituiert unwiderlegbar logisch den Bürger als selbstständiges und vernunftbegabtes Einzelwesen und mithin als autonom Handelnden. Er tut dies, indem er als Basis die reine Wahrnehmung, die handelnde Absicht bzw. Tat und die klare Urteilskraft setzt. Diese drei Grundsteine werden von ihm separat geistig „freigelegt“ und bewiesen. Dies sind die berühmten drei „Kritiken“ – der „Reinen Vernunft“ ersch. 1781, der „Praktischen Vernunft“ ersch. 1788, und der „Urteilskraft“ ersch. 1790. Sie zertrümmern das monarchische Weltbild und stellen die gesamte moderne Philosophie auf neue Füße.
1793, nur drei Jahre später, köpfen die Franzosen Ludwig den 16. auf dem heutigen Place de la Concorde.

Kritiker Kants sind etwa

Friedrich Schiller, Wilhelm Fichte, Friedrich Hölderlin (ca. 1790- 1815)

=> sie konstituieren das Schöne , das Erhabene und das Handelnde Ich im von Kant etablierten, leider recht nüchternen, nur dem ‘kategorischen Imperativ’ verpflichteten Subjekt. Diese Werte sollten einen neuen Menschen formen und den bestehenden verbessern. Es soll eine neue Welt entstehen, die man aus Geschichte, Kunst und Bildung formen möchte. Weil es hier um Vorstellungen geht, um Ideale und die Hinwendung daran, nennt man diese Strömung “Deutscher Idealismus”. Während Hölderlin weiterhin die schönste Sprache der Deutschen Geschichte bietet, gelten die Theoriebücher von Fichte und Schiller als merkwürdige und schwierige Literaturgattung. Sie tragen so nachweisbar zur Wahrnehmung des “Tiefen Schwierigen Deutschen GemuetsWesens” in der Weltgeschichte bei.

Friedrich Hegel, 1825

=> bringt neue Größen in die Philosophie ein, die er aus den frühen Philosophen (Platon, Sokrates, etc.) her deutet. Er sieht einen „Weltgeist“, der auf Zeit und Mensch einwirkt, und sich in Personen, Geschehnissen, Moden, Ideen und Gesprächen verwirklicht. Das beste Bild dieses Geistes ist ein Gespräch („Dialektik“), das sich selbst als neue Basis verwirklicht („Synthese“) und sich von dort weiter entwickelt. Das Konzept ist damals völlig neu, da Geschichte so nicht begriffen wurde. Hegel ist auch – im Unterschied zu den Feuerköpfen Schiller und Hölderlin – fest und tief im preußischen Staat verwurzelt. Dass seine Philosophie diesen Staat als Krone des Weltgeistes sieht, darf nicht überraschen. Die Bücher Hegels zur Philosophiegeschichte sind heute noch lesenswert. Seine Ideen dagegen bilden das Fundament der modernen Geschichts- und Politikwissenschaft.

Karl Marx, 1850:

=> Marx gibt dem eher nebulösen „Weltgeist“ von Hegel ein Alltagsgesicht und Werkzeuge in die Hand. Denn bei Ihm sind es nicht mehr „Gespräche“, die den Weltgeist voranbringen, sondern es findet ein permanenter Kampf um Güter und Leistungen statt, der Menschen in „Klassen“ vereint, die um den Zugang und den Genuss von Gütern und Leistungen kämpfen.
Unterscheidungsmerkmale sind nun erstmals nicht mehr Geschlechter oder Nationalzugehörigkeiten, sondern eben „Klassen“. Dazu erschafft er den begriff des „Produktionsmittels“ und der „Wertschöpfung“ – beides bis dahin unbekannte Klammern. Marx zeigt auch als erster (im Kommunistischen Manifest), dass eine Philosophie den Menschen und seine Bedürfnissen ernst nehmen muss, weil sonst die Philosophie nicht ernst zu nehmen sei.

Dies untermauert er weiter in einem scharfsinnigen Buch, das die Wertschöpfungskette des Maschinenzeitalters und seine zugrunde liegenden Bedingungen analysiert: „Das Kapital“. Tatsächlich bricht diese Idee auch in Kürze und mit Windeseile aus dem rein akademisch-journalistischen Diskurs aus. Mit der 1864 abgehaltenen IAA beginnt der Kommunismus in Europa als politische Kraft mitzumischen und seine Philosophie vorwiegend unter Gleichgesinnten zu betreiben.

Schopenhauer ca. 1860, Nietsche: Professor in Basel ab 1868

=> Beide verneinen die Gültigkeit absoluter moralischer Normen, womit sie auch explizit die philosophischen Vorgänger einrechnen. Schopenhauer hat viel Geld, leidet still und einsam, mit indischem Geisteshintergrund und mit selbst publizierten Werken weithin unbeachtet. Nietsche lebt von Anfang an “zwischen allen Stühlen” und ist auf seinen Lebensstationen immer irgendwie auf der Durchreise.
Beiden gemein ist, dass sie beim Anblick des „gemeinen menschlichen Lebens“, und der gnadenlosen Unbedingtheit des Todes aufzeigen, dass tatsächlich jede Norm ins Nichts geführt werden kann.

Nietsche ist darüber hinaus Extatiker und deutet in seinem vermischten Werk an, dass ein Mensch – alleine mit den Trieben und Mächten der Welt gestellt – nur jenseits aller Normen, als „Übermensch“ neu entstehen kann. Dieser Freispruch von moralischer Verantwortung zieht bis heute vor allem junge Männer sehr an.

Edmund Husserl: 1890

Husserl ist Mathematiker und begründet auf Logik und Kant dass die Sinne, also das logisch untersuchbare Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen unsere Welt erst konstituieren. Um herauszufinden, was „Wirklich Da Ist“, muss man die Phänomene untersuchen, die dieses anscheinend sichere Bild der Welt in uns schaffen. Deswegen nennt er seine Philosophie “Phänomenologie”. Man sieht also den Erkenntnisprozess an und auf welchen Faktoren dieser beruht. So werden etwa Emotionen und Messergebnisse ziemlich gleich. Alle menschliche Sinneseindrücke, Gedankengänge, Ideen, alles Wissen und auch der Erkenntnisprozess selbst, haben tragende Faktoren, die überhaupt erst den Raum für Erkenntnis und Bewertunsprozesse schaffen.
Das ist neu, weil so ein Metaraum des Geistes eröffnet wird, der einserseits Kant genügt, aber andererseits auch andere Metaräume (etwa in der Medientheorie, oder später den Konstruktivismus) zulässt. Außerdem ist Husserl ein Österreicher jüdischen Glaubens, was ihm später noch Demütigungen durch die Nazis einbringt.

Martin Heidegger: 1920

Heidegger ist, sobald er selbst Vorlesungen hält, ein Rockstar. Toutes la republique intellectuelle Allemagne geht hin und ist hingerissen. Seine Vorlesungen sind Hoheämter der Philosophiegeschichte, verbunden mit deutenden Hinweisen auf die Schutzlosigkeit des „In-die-Welt-geworfenen-Seins“, verbunden mit einem profunden Faktenwissen und brillianten Querverbindungen in Erkenntnistheorie, Sprachheuristik und europäische Geistesgeschichte. Heidegger dekonstruiert die Sprache so, dass man dazwischen den reinen Geist durchscheinen sehen kann, wenn man sich auf die Magie einlässt.
Der junge Sartre ist übrigens von Heidegger auch schwer beeindruckt.
Sprache und Wirkmächtigkeit ruhen beim gebürtigen Meßkirchener Heidegger auf dem tiefen Glauben an die Kraft der Philosophie, und einer zunehmend eigenbrötlerischen Sprachumdeutung, die er im Alterswerk auch immer mehr als eigener Gralshüter gestaltete.
Leider ließ ihn diese Rolle schon früh bei den Nationalsozialisten mitmachen. Von 1933 bis 1934 amtete er als Rektor der Freiburger Uni. Er ließ ein Hausverbot für seinen verehrten Lehrer Husserl zu und klüngelte ein wenig im Reich herum, bis er beleidigt davon ablies, weil niemand seine „Philosophen-Uni auf dem Feldberg“ kaufte.
Dafür schämt sich die deutsche Philosophiegeschichte bis heute.

fin.


Zurück zu: Themen